Ich bitte meine Tochter um einen Gefallen... sie soll mir den gelben Zettel auf der Küchenablage bringen. Ich stehe bereits ein wenig ungeduldig in der offenen Türe - mit Schuhen, Jacke und einer Tasche in der rechten und einer in der linken Hand. Meine Tochter findet den gelben Zettel nicht. Ich entledige mich genervt von Schuhen und Taschen und hetze zurück in die Wohnung. In der Küche liegt der grüne Zettel. Meine Tochter sieht mich triumphierend an und meint: "ich habe doch gesagt, da ist kein gelber Zettel." Ich hätte schwören können, dass er vorhin noch gelb war.
Solche Situationen beschämen mich einerseits. In Gedanken hatte ich meiner Tochter bereits Farbenblindheit unterstellt, um dann festzustellen, dass mein eigener Blick getrübt war. Anderseits wundere ich mich darüber, wie schnell sich "die" Wahrheit als eine unter vielen entpuppt.
Deine Wahrheit, meine Wahrheit - die Wahrheit kann wechseln.
Eine Situation lässt sich immer auch anders betrachten. Wie lässt sich dann feststellen, welche Betrachtungsweise falsch oder richtig ist? Es gibt keine treffende Antwort auf diese Frage. Es geht viel mehr darum, sich dessen bewusst zu sein, dass dasjenige was ich im Jetzt als "wahr" empfinde, morgen bereits "unwahr" erscheinen kann. Das folgende Beispiel verdeutlicht, was ich damit sagen will.
Jahrelang habe ich meine Arbeitskolleginnen, die Teilzeit beschäftigt waren und Kinder zu betreuen hatten, als wenig engagiert erlebt. Nachdem ich dann selbst 10 Jahre Muttersein und Berufstätigkeit gelebt hatte, schrieb ich eine Diplomarbeit mit dem Titel „Mentaltraining für berufstätige Mütter zwischen Selbstverwirklichung und Familienmanagement.“ Dabei hatte ich grosses Mitgefühl mit mir und allen berufstätigen Müttern und empfand mich/uns als sehr engagiert. Was ist passiert?
Ich habe die Gelegenheit erhalten hinter die Kulissen zu sehen, weshalb sich meine Wahrheit verändert hat.
Kennst du selbst ebenfalls ähnliche Beispiele aus deinem Leben?
Es lohnt sich, sich selbst zum Thema „meine Wahrheit, deine Wahrheit“ zu reflektieren.
Meine Keks... Deine Kekse...
Wie schnell sich eine Wahrheit als unwahr herausstellt, zeigt diese berührende Geschichte, die ich beim Hören des Podcasts "calm is your superpower" entdeckt habe.
«Eine Frau wartete eines Abends an einem Flughafen auf ihren Flug und hatte noch einige Stunden bis zur Abflugzeit. Sie suchte in den Geschäften des Flughafens nach einem Buch, und kaufte außerdem eine Tüte Kekse. Sie suchte sich einen Platz, um sich dort fallen zu lassen und es sich gemütlich zu machen während sie wartete.
Sie war in ihr Buch vertieft, sah aber zufällig aus den Augenwinkeln, dass der Mann, der neben ihr saß, frech wie er war, immer wieder zwischendurch einen oder zwei Kekse aus der Keks Tüte nahm. Sie versuchte es zu ignorieren, um nicht unhöflich zu sein und um eine Szene zu vermeiden.
Also mampfte sie die Kekse und beobachtete die Uhr, während der dreiste Keksdieb neben ihr weiter mit den Keksvorrat verkleinerte. Je mehr Minuten verstrichen, desto mehr ärgerte sie sich und dachte: "Wenn ich nicht so nett und gut erzogen wäre, würde ich ihn in seine Schranken weisen und ihm sagen, dass man sich so dreist nicht verhält."
Mit jedem Keks, den sie nahm, nahm der Mann auch einen, und als nur noch ein letzter Keks übrig war, fragte sie sich, was er wohl jetzt tun würde. Mit einem Lächeln im Gesicht und einem nervösen Lachen nahm der Mann den letzten Keks und brach ihn in zwei Hälften.
Er bot ihr eine Hälfte an, und als er die andere ass, schnappte sie ihm die angebotene Hälfte weg und dachte... ‚oooh Mann. Der Kerl hat vielleicht Nerven und ist auch noch so unhöflich, warum hat er sich nicht einmal bedankt!
Die Frau wusste nicht, wann sie sich jemals so geärgert hatte, und seufzte erleichtert, als ihr Flug aufgerufen wurde. Sie packte ihre Sachen zusammen und ging zum Flugsteig, wobei sie sich weigerte, dem undankbaren Dieb einen letzten Blick zu gönnen.
Sie bestieg das Flugzeug und ließ sich in ihren Sitz sinken, machte es sich bequem und suchte dann nach ihrem Buch, mit dem sie fast fertig war. Als sie in ihr Gepäck griff, zuckte sie vor Überraschung und Schreck zusammen, denn dort lag ihre Tüte mit den Keksen vor ihren Augen.
‚Wenn meine hier sind‘, stöhnte sie verzweifelt, ‚dann waren die anderen seine, und er wollte teilen‘. Zu spät, um sich zu entschuldigen, erkannte sie mit Scham und Bedauern, dass sie die Unhöfliche, die Undankbare, die Diebin gewesen war.»
Meine Wahrheit ist auch eine Frage der Perspektive.
Folgende Übung stärkt dein Bewusstsein für die vielfältigen Sichtweisen und deren noch vielfältigeren Wirkungen. Sie hilft dir ausserdem die Perspektive zu wechseln und für dich selbst zu entscheiden, welche Wahrheit dich im Leben weiter bringt.
Wechsle die Perspektive - eine MiniÜbung
«Setze dich auf einen Stuhl und nimm dabei eine bequeme Position ein.
Achte dabei auf eine aufrechte Haltung der Wirbelsäule. Entspanne bewusst deine Schultern und deinen Kiefer. Verankere deine Füsse mit dem Boden.
Schliesse deine Augen.
Konzentriere dich auf deinen Atem und nimm 2 bis 3 tiefe Atemzüge. Lasse deinen Atem nun in seinem eigenen Rhythmus fliessen.
Denke an eine Situation aus der Vergangenheit, die dich noch heute beschäftigt. Nimm diese Situation mit allen Sinnen wahr und betrachte sie so aus der Nähe. Was hast du mit deinen Augen gesehen, was auf deiner Haut gespürt, was mit deinen Ohren gehört, was mit deiner Nase gerochen und welches Aroma auf deiner Zunge wahrgenommen. Notiere dir alle Gedanken, Worte, körperlichen Empfindungen und Gefühle, welche durch diese intensive Vorstellung zum Vorschein kommen auf ein Blatt Papier.
Nun legst du das Blatt - stellvertretend für die Situation - auf den Boden während du dich selbst auf einen Stuhl stellst. Wie nimmst du aus dieser Perspektive die Situation wahr? Wird die Situation kleiner oder grösser? Nimmt diese weniger oder mehr Raum ein? Spürst du durch den Abstand Erleichterung oder Schwere? Vielleicht verliert die Situation durch deine Haltung - du schaust von oben hinab - bereits etwas an Brisanz oder ist sie immer noch omnipräsent? Es kann auch sein, dass allein das Niederschreiben der Situation einen Perspektivenwechsel provoziert hat.
Steige dann langsam wieder vom Stuhl und mache dich bereit die Augen zu öffnen, dich zu strecken, recken und tief ein- und ausatmend wieder ins Hier und Jetzt zu kommen.»
Egal wie du auf die Fragen geantwortet hast, ich bin sicher die andere Sichtweise auf die Situation hat auch etwas an deinem Empfinden verändert.
Um mental die Perspektive zu wechseln, kannst du mit folgenden Werkzeugen experimentieren:
wechsle einfach den Raum und spüre nach, was sich dadurch verändert hat
steige auf einen Hügel und lass den Blick übers Tal schweifen und nimm wahr, wie sich dein mentaler Zustand verändert
stelle 4 Stühle vor dich hin, denke an deine Situation und wechsle nach einer Minuten den Stuhl bis du auf allen 4 Stühlen gesessen bist - nimm wahr, auf welchem Stuhl sich die Situation am besten anfühlt
male einen Punkt auf deine Hand - der Punkt erinnert dich an die Situation und im Vergleich zur ganzen Handfläche wirkt die Situation bereits anders
stell dir die Situation vor und färbe diese in deiner Vorstellung mit verschiedenen Farben ein - entscheide mit welcher Farbe sich die Perspektive auf die Situation verbessert
Du kannst dich selbst für diejenige Wahrheit entscheiden, die sich von der besten Seite zeigt.
«Aus der "besseren Perspektive" kann man auch zu einer "Ansicht" kommen.»
In diesem Sinne wünsche ich dir einen bewussten Blick für die möglichen Perspektiven, die sich im Leben ergeben können.
Danke für deine Aufmerksamkeit beim Lesen des Blogs. Danke für das Ausprobieren der verschiedenen Werkzeuge. Danke für dein Feedback, damit ich mich freuen und wachsen darf.
Quellen:
-Geschichte "Die Keksdiebin": Nach dem englischen Original " The Cookie Tief" von Valerie Cox, übersetzt von Karla Johanna Schaeffer, https://www.karlajohannaschaeffer.com/post/wie-wir-aufh%C3%B6ren-andere-zu-verurteilen-die-keksdiebin
-Zitat: https://www.zitate.de/kategorie/perspektive
-Bilder aus der eigenen FerienFotoGalerie
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